Wie die Postmoderne auf die Gemeindarbeit abfärbt
Artikel aus der Zeitschrift Praxis
Das Phänomen «Postmoderne» ist weder einheitlich und übersichtlich noch linear. Es ist eher chaotisch, ständig in Bewegung, ein Fluidum, das sich je nach Situation und Per- spektive anders präsentiert. Gerade dies macht die Auseinandersetzung so spannend, aber auch anstrengend und zuweilen frustrierend. Sie ist aber unbedingt notwendig, denn postmo- derne Tendenzen machen vor den Toren der Gemeinde nicht Halt.
In ihrem Lebensgefühl und ihrer Denkweise ist die so genannte Generation X wohl am meisten vom postmodernen Gedanken- gut geprägt. Gemeinden mit großem Anteil von X-lern sind darum stärker von postmodernen Tendenzen betroffen als andere. Für Jugendliche und junge Erwachsene der Gegenwart ist die Postmoderne nämlich nicht nur eine avancierte Ästhetik oder ein akademisches Thema. Es ist die Form und Struktur ihres alltäglichen Lebens.
„Für Jugendliche ist das Abenteuer Postmoderne ein wilder, gefährlicher Ausflug, ein rasend schnelle Achterbahnfahrt mit starkem Nervenkitzel und überraschenden Abstürzen ins Ungewisse.» So charakterisiert der Philosoph Douglas Kellner die Situation der heutigen Zeit. Und dies kann nicht ohne Auswirkungen auf die christlichen Gemeinden bleiben. Gemeindearbeit steht immer unter dem Einfluss der jeweiligen Kultur, ob positiv oder negativ. Gemeinde im Kultur-Vakuum bleibt ein Wunschtraum mancher Pastoren.
Der amerikanische Vordenker und Evangelistik-Professor Leonard Sweet bezeichnet unsere Zeit als «EPIC-Times». Jeder der vier Buchstaben verkörpert eine postmoderne Welle, die auch über unsere Gemeinden hinwegrollt und uns herausfordert, diese Dynamik fürs Reich Gottes fruchtbar zu machen. Einiges, das vordergründig einfach nach Zeitgeist riecht, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als Anknüpfungspunkt für das Evangelium.
„Experiental" (erfahrungsorientiert)
In der Wirtschaft wird die Kaufentscheidung immer weniger von Preis und Qualität beein flusst. Entscheidend sind die emotionalen Assoziationen des Konsumenten. Nike verkauft nicht einfach Schuhe, sondern ein „Experience", ein Erlebnis, eine Erfahrung mit emotionalen und immateriellen Werten. Diese Überzeugung macht auch vor den Gemeindetoren nicht halt. Glaube muss doch mehr als ein Bejahen von dogmatischen Überzeugungen sein. Es geht heute weniger darum, ob Christen beweisen können, was sie glauben. Viel mehr zählt, ob Christen leben, was sie glauben. Ein fromm verklärter Rationalismus und eine kopflastige Theologie haben zu einer einseitigen Betonung von Wissen und Fakten geführt. Nun wäre es zu einfach, den Wunsch nach geistlichen Erfahrungen vieler Christen einfach als oberflächliche Erlebnistheologie zu diskreditieren.
Bei vielen Gemeindegliedern beobachte ich eine tiefe Sehnsucht nach ganzheitlichen Gottesbegegnungen, nach einer Spiritualität, die nicht einfach Kopfwissen fördert, sondern im Alltag erfahrbar ist. Dies zeigt auch die Entwicklung auf dem christlichen Buchmarkt. War vor Jahren James Packer's „Gott kennen" ein Renner, so steht heute Henry Blackaby's „Gott erfahren" hoch im Kurs. Auch Autoren wie Fester, Willard und Ortberg, die sich einer ganzheitlichen Spiritualität verpflichtet wissen, werden in evangelikaien Kreisen begeistert aufgenommen.
„Participatory" (partizipatorisch)
Im Zuge von Wirtschaftsskandalen und Politaffären herrscht Skepsis gegenüber offiziellen Autoritäten. Auf der Titelseite der „Zeit" war kürzlich sogar „Führungskrise in Deutschland" zu lesen. Diese Verunsicherung und Frustration überträgt sich auch auf Verantwortungsträger in kirchlichen Aufgaben. Der Pastor als allein bestimmender „CEO" wird in Zukunft weniger gefragt sein. Steile Hierarchien werden in postmodernen Zeiten wenig geschätzt. Dahinter wird pures Machtstreben vermutet und dagegen sind X-ler besonders allergisch. Gemeinden, die von Teams geleitet werden, entsprechen dagegen dem Wunsch nach Partizipation und nähern sich gleichzeitig dem neutestamentlichen Vorbild.
In diesem Zuge wird auch das allgemeine Priestertum neu entdeckt. Die Beiträge und Gaben jedes Einzelnen werden geschätzt (vgl. Kol 3,16). Der Gottesdienst der Zukunft wird darum stärker interaktiv sein, keine einstudierte „One-Man-Show" am Sonntagmorgen. Vor einigen Monaten habe ich ein Predigtexperiment gewagt: keine bis ins Detail ausgeschriebene Rede, sondern ein interaktives Gespräch. Dies erfordert eine große gedankliche Flexibilität und fast intuitive Vertrautheit des Pastors mit dem Thema, verhindert aber eine Einbahnkommunikation.
Die Zuhörer fühlen sich mit ihren Beiträgen und Fragen ernst genommen und haben gemäß Feedback mehr vom Text verstanden und behalten als gewöhnlich. Die Predigt als Dialog? Im protestantisch geprägten Europa (noch) ein Ärgernis, in jüdischer und orientalischer Rhetorik jedoch tief verankert. Darum erstaunt nicht, dass sich viele postmoderne Christen dem hebräischen Denken und Reden mehr zugeneigt fühlen als dem abstrakten, linearen Denken der Moderne.
„Image-drive" (bildgeprägt)
Die Kultmedien der Postmoderne sind nicht die FAZ oder NZZ, sondern Viva und MTV. Ein 24-stündiger Bilderrausch, der durch unsere Hirne fließt. Vom Wort zum Bild, so könnte eine Kurzfassung des Unterschieds zwischen Moderne und Postmoderne heißen. Das Optisch-Visuelle gewinnt die Oberhand.
Auch Gemeinden werden oft zuerst einmal anhand der Grafikqualität ihrer Webseiten und „Flyers" beurteilt. Tatsächlich ist das nicht unproblematisch. Das Wort kann und darf in der Gemeinde nicht verdrängt werden. Vielleicht stimmt uns aber ein Blick in die Evangelien versöhnlich. Denn gerade Jesus, das personifizierte Wort, war ein Meister darin, seine Zuhörer mit bildhafter Sprache, Metaphern, Geschichten und interaktiven Szenen zu fesseln. War Jesus der erste Multimedia-Künstler?
Communal (gemeinschaftlich)
Eine große Sehnsucht nach authentischen Beziehungen kennzeichnet die vierte große Tendenz. Sie erstaunt nicht, wenn man bedenkt, dass viele Jugendliche und Erwachsene nie das Gefühl von Geborgenheit und harmonischen Beziehungen in ihren Herkunftsfamilien erlebt haben. Sie würden ihre Vergangenheit eher mit den Worten von Douglas Coupland („Life after God") beschreiben: „das kommt daher, dass ich niemals das Gefühl hatte, von irgendwoher zu stammen; mein Zuhause ist, wie gesagt, ein mit anderen geteilter elektronischer Traum aus Erinnerungen an Comics, halbstündigen Fernsehserien und nationalen Tragödien.»
Postmoderne Zeitgenossen suchen in Gemeinden tragfähige Beziehungen und nicht in erster Linie die perfekte Dogmatik oder das Rhetorik-As. Ähnliche Erfahrungen hat Willow Creek in den letzten Jahren gemacht. Galt früher bei ihnen die Devise: Glaube zuerst, dann darfst du dazugehören, so verläuft heute die Reihenfolge oft umgekehrt. Menschen wollen zu einer Gruppe gehören und entdecken erst in der Gemeinschaft den christlichen Glauben (Belonging before believing).
Zu dieser Tendenz passt meine Beobachtung, dass die Ansprche an die soziale Kompetenz des Pastors in der Postmoderne rapide gewachsen sind. Ein fundierter theologischer Rucksack allein garantiert heute keine erfolgreiche Gemeindearbeit mehr. Denn viele Konflikte im Gemeindealltag sind nicht theologischer Natur, sondern entspringen dem Beziehungsgeflecht der beteiligten Personen und Missverständnissen in der Kommunikation.
Der postmoderne Pastor gleicht darum mehr einem Coach als einem theologischen Gelehrten. Überlebenswichtig sind überdurchschnittliche kommunikative Fähigkeiten und die Fähigkeit, Menschen zu fördern, Beziehungen zu gestalten und Konflikte zu lösen.
«EPIC-Times» versprechen, kein Spaziergang zu werden, auch in der Gemeindearbeit nicht. Positiv verstanden eröffnen sie jedoch ungeahnte Möglichkeiten für ein spannendes und glaubwürdiges Christsein.
Michael Bischoff (29) ist Pastor in der Evangelischen Gemeinde Basel und Studienleiteram
IGW Basel